Nachdem wir einige Tage in der lebendigen Hauptstadt Tiflis verbracht haben, möchten wir unsere letzte geplante Nacht in Georgien dann doch wieder in der Natur verbringen. So suchen wir nach der Abfahrt vom Tusheti Pass kurz vor der aserbaidschanischen Grenze einen möglichen Übernachtungsplatz für uns und unsere schwer Obst-bepackten Motorräder. Von der Hauptstraße biegen wir in eine Nebenstraße ein, von der Nebenstraße in einen unbefestigten Feldweg. Diesem folgen wir eine ganze Weile, entlang an einem kleinen aber umso schneller rauschenden Bach und vorbei an Weinbergen und kleinen Hütten, bis wir den perfekten Spot für die (vorerst) letzte Nacht in Georgien finden. Aus ursprünglich drei geplanten Tagen sind fast zwei Wochen geworden, weil uns das Land so gut gefallen hat.
Wir schlagen die Zelte etwas abseits unter ein paar wilde Beeren tragenden Bäumen auf. Nach einer kurzen Wascheinlage im wahnsinnig schnell fließenden Bach können wir von unseren Zelten aus beim Abendessen die hinter den leicht abfallenden Weinbergen untergehende Sonne beobachten. Mit der Dunkelheit fallen aber auch die Mücken über uns her, also machen wir nur das kleinem rot getönte Licht unserer Taschenlampen an, um nicht noch mehr der gierigen Biester anzulocken.
Bevor wir um kurz vor Mitternacht die letzten Reste Bier vertilgen und uns in die Zelte verkriechen können, taucht in einiger Entfernung eine Taschenlampe auf. Da wir nicht wissen, wen wir um diese Uhrzeit irgendwo im Nichts zu erwarten haben, lassen wir zwar unser Licht an, verhalten uns aber ansonsten ruhig. Kurz darauf bleibt der Strahl der Lampe für einige Sekunden auf mir stehen, doch statt der erwarteten Fragenm wer wir sind und was wir hier machen, zerreißt plötzlich ein Knall die Luft. Ich falle aus dem Stuhl und brauche erstmal einige Sekunden das gerade Geschehene in meinem Kopf zusammen zu puzzlen: Ein lokaler Wilderer hat die Reflektor-Streifen auf meiner Kombi für Tier-Augen gehalten und auf Verdacht abgedrückt. Während ich mich entsprechend akustisch bemerkbar mache, schaltet Thomas ebenfalls unsere Taschenlampen an und zwei erschrockene Gesichter tauchen aus dem Dunkeln auf: Eine erfolgreiche Jagd hatten sich die beiden anscheinend anders vorgestellt.
Da dieser Feldweg wohl so schnell von keinem Krankenwagen gefunden wird, holt einer der nächtlichen Jäger sein Auto, während ich versuche herauszufinden wie viele Löcher ich jetzt eigentlich habe und Thomas beim Anblick des größten Lochs versucht seinen Würgereiz zu unterdrücken. Und so liege ich 10 Minuten später zusammengekrümmt auf der Rückbank eines Honda Civic und frage mich, wie schlimm eine Schußverletzung eigentlich sein kann und ob man damit nach ein paar Tagen wieder Motorrad fahren kann. Die Schmerzen beim ins Auto heben waren jedenfalls die schlimmsten, die ich je aushalten musste. Im Krankenhaus stellt sich dann heraus: Ein glatter Durchschuss vom Oberschenkel zum Steißbein und ein zertrümmerter Oberschenkelknochen, die Reise damit zu Ende…
In dem Moment bin ich aber noch zu beschäftigt um über das Ende der Reise zu trauern, das Krankenhaus im ländlichen Georgien, genauer in Telavi, birgt nämlich noch so einige sehr eigene Herausforderungen. Da das Krankenhausgebäude noch aus Sowjetzeiten stammt, die Betten aber aus amerikanischer Produktion sind, passen diese selbstverständlich nicht durch die Zimmertüren. Für jeden Weg in ein anderes Zimmer zu Untersuchungen, zum CT oder Röntgen muss ich vom Bett auf eine fahrbare Liege und wieder in ein Bett gewechselt werden – unglaublich spaßig mit einem offenen Oberschenkelbruch! Besonders dann, wenn auf dem Weg das verletzte Bein noch gekonnt durch den leicht über die Liege hinausragenden Fuß am Türrahmen gestaucht wird. Den Krankenschwestern, die meistens keine Ausbildung genossen haben und wohl kaum viel mehr als 200€ im Monat verdienen, merkt man die Überforderung mit einem angeschossenen Deutschen deutlich an.
Während ich noch untersucht werde, betritt Thomas das Zimmer und sagt: „Da draußen liegt eine Apparatur und Werkzeug, ich hoffe bloß das ist nicht für dich!“ Natürlich war es für mich. Da ich nicht sofort operiert werden kann muss das Bein gestreckt werden, und dafür wird ein Konstrukt verwendet, welches ich bisher nur aus dem russischen Cartoon Nu Pogodi kannte. Das dafür verwendet Werkzeug würde ich wohl nichtmal zu Hause in der Werkstatt verwenden wollen. Während ich nach getaner Arbeit und einigen beantworteten Fragen der mittlerweile eingetroffenen Polizeibeamten endlich versuchen kann zu schlafen, fährt Thomas zurück zu unserem Campingplatz. Dieser ist mittlerweile in Blaulicht getaucht und alle unsere Sachen werden in einen Pickup der Polizei geladen, meine treue DR von einem der Beamten in groben Schlangenlinien zum Revier gefahren. Beim Absteigen kann er sich ein leichtes Grinsen aber nicht verkneifen. Spaß am Motorrad fahren ist eben universal.
Am nächsten Tag wird alles nötige für die OP besprochen, denn mit dem offenen Bruch ist ein Rücktransport nicht möglich, ansonsten gibt es nicht viel zu tun. Es findet aber ein Junge den Weg in mein Zimmer der weder Russisch noch Englisch spricht, um den verletzten Ausländer zu begutachten. Dabei hat er – natürlich – ein Spielzeuggewehr.
Am dritten Tag im Krankenhaus steht dann die OP an, ich darf also den ganzen Tag nichts essen. Da die georgischen Ärzte mit den Bezeichnungen in meinem Impfpass nichts anfangen können bekomme ich zu Vorsicht eine zweite Tetanus Impfung verpasst. Allgemein habe ich schon längst aufgehört die Spritzen zu zählen, die ich bekomme. Der Knochen wird durch eine externe Fixateur fixiert, der ausführende Chirurg kommt dafür extra aus der Hauptstadt angereist. Während der OP bin ich zwar wach, aber ab der Hüfte abwärts betäubt. Neben dem Ziehen und drücken an meinem Bein bekomme ich davon nicht viel mit, außer dass meine Nase andauernd juckt. Mit den fixierten Armen ist das besonders ärgerlich. Als Nebenwirkung der Narkose zittert meine Oberkörper noch eine ganze Weile. Thomas muss für mich die Nachricht an die Familie schreiben, dass alles gut gegangen ist, weil ich mein Handy selber nicht festhalten kann. Nachdem meine Hände sich doch wieder beruhigt haben, ertaste ich unter der Decke ein Gestänge, dass ich für das Geländer des Betts halte. Als ich mein Bein bewege bewegt sich das Geländer mit – das Gestänge ist die externe Fixatur und gehört dann jetzt wohl zu mir. Und ich kann endlich wieder etwas essen – der Leiter der Klinik schaut vorbei und drückt mir nach der OP ein Waffeleis in die Hand.
Neben dem Post-OP Eis sind hier noch so einige Dinge anders als man es vielleicht von deutschen Krankenhäusern gewohnt ist:
- Die Betten sind, wie schon beschrieben, zu breit für die Türen. Jeder Patient muss also während seines Aufenthaltes mehrfach „umgelagert“ werden
- Auf dem Tisch im Krankenhausflur klebt ein Aufkleber der Turngemeinde Biberach 1847 e.V. – wohl eine Spende aus Deutschland
- Essen und Trinken wird im Krankenaus nicht zur Verfügung gestellt – dafür haben die Angehörigen zu sorgen. Da ich im Krankenhaus eine kleine Sensation war, war das für mich kein Problem. Die Schwestern und der schuldige Jäger brachten mir jeden Tag tütenweise Essen. Am Morgen nach der OP bekam ich auf die Bitte nach einem kleinen Frühstück und etwas Saft eine Packung Apfelsaft und einen Döner geliefert. Die Hälfte von dem mir gebrachten Essen musste ich weg schmeißen, dank mangelnder Bewegung und der Hitze fehlte mir einfach der Appetit.
- Auch für die Reinigung der Patienten sind die Angehörigen zuständig, denn auf den Zimmern gibt es keine Toilette oder Dusche. Das Klo im Flur ist ein Plumps-Klo. Schwierig für Patienten mit gebrochenem Bein.
- Der Oberarzt des Krankenhauses ist notorischer Raucher. Auch beim Behandeln der Patienten wird mit der freien Hand die Kippe zum Mund geführt.
- Zudem ist der Oberarzt ein ungeduldiger Choleriker – gepaart mit den teils unfähigen Krankenschwestern eine gefährliche Mischung. Umso dankbarer war ich, dass die OP von jemand anderem durchgeführt wurde.
- Bei schlechtem Wetter dürfen Besucher ihr Motorrad alternativ auch im Krankenhaus parken. Thomas hat das gerne genutzt.
- Es gibt kein Rufsystem mit einer Taste im Raum um Krankenschwestern zu benachrichtigen, wer nachts ein Problem hat muss eben laut genug rufen oder bis zum Morgen warten.
- Bei den zur Verfügung gestellten Decken herrscht dafür ein gehobener Standard. Diese weisen entweder stilechte Leopardenmuster oder Armani Schriftzüge auf.
Die restlichen Tage in dieser Oase verbringe ich damit, den Rücktransport zu organisieren, MotoGP-Rennen zu schauen, zu schwitzen, Döner zu essen, zu lernen die Frage „Wie gehts?“ auf georgisch mit „Gut“ zu beantworten (das Wort „schlecht“ wurde mir einfach nicht beigebracht) und die drei Fragezeichen bei ihren Abenteuern zu begleiten, während mein eigenes hier zu Ende ist und Thomas draußen die georgische Küche und Landschaft genießt. Gab schon bessere Tage.
Ein letztes Abenteuer steht aber noch aus: der Rücktransport. Da die Reise hier endet kommt vorher der Bart ab, nach nur einem statt der geplanten fünf Monate. Dafür kann praktischerweise der von mir ein paar Tage vorher vom Motorrad abgebrochene Rückspiegel herhalten. Für den Flug kommt ein Sanitäter aus Deutschland eingeflogen, um mich unterwegs zu begleiten. Der angeforderte Krankentranport zum Flughafen hat natürlich Verspätung und jeder verbringt die Zeit auf seine Weise: Der Klinik-Chef bestaunt die Ausrüstung des angereisten Sanitäters, der angereiste Sanitäter bestaunt seinerseits georgischen Selbstgebrannten, und ich jucke danke Scheißegal-Spritze wieder die ganze Zeit meine Nase – mit wachsender Ungeduld. Auf dem Weg aus dem Krankenhaus habe ich mittlerweile dazugelernt und verhindere mehrfach mit den Händen, dass die an meiner Seite abstehende Fixatur Bekanntschaft mit dem Türrahmen macht. Dank der Spritze spüre ich auf dem Weg zum Flughafen zwar mein Bein nicht, aber auf dem Weg nach Tiflis müssen wir wieder einen Bergpass überwinden. Die georgischen Straßenzustände und Fahrweise sowie die liegende Position befördern mein Abendessen in eine Tüte, ein Blick in das bleiche Gesicht des mich begleitenden Sanitäters verrät mir, dass es diesem ähnlich geht. Der Rest der Rückreise vergeht zum Glück ohne größere Komplikationen, und so komme ich nach fast 24 Stunden unterwegs endlich in Bielefeld an.
Der ganze Trip ist damit Ende Mai statt nach fünf bereits nach einem Monat erstmal zu Ende. Nach langer Planung und Vorbereitungszeit ist das natürlich enttäuschend und schwer zu schlucken. Vor einer langen Reise mit dem Motorrad kann man sich viele Gefahren ausmalen, einen Sturz, einen Überfall, wilde Tiere und Krankheiten. Aber es lässt sich eben doch nicht alles planen und so müssen der Pamir und die Mongolei noch etwas auf mich warten.
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